Lebt wohl, Glühwürmchen; leb wohl, Jiangxinzhou
Ich war heute in Nanjing, um mir ein paar Projekte anzusehen, und übernachtete in der Nähe des Olympischen Sportzentrums. Ein Blick auf die Karte zeigte: Gleich außerhalb liegt der Jangtse, nur etwa ein Kilometer entfernt. Ein Sommerabend um sechs, die Sonne stand noch hoch — ich beschloss, zum Fluss zu gehen.
An der Kreuzung Aoti‑Straße/Jangtse‑Allee stellte ich fest, dass es keine Querstraße hinunter zum Ufer gab. Ich folgte der Jangtse‑Allee ein Stück und traf einen älteren Herrn auf seinem Spaziergang. Er meinte, es gebe keinen Zugang: „Wenn du zum Fluss willst, musst du über die Geländer klettern. Das mache ich täglich — hält die Beine fit.“ Ich kletterte ihm hinterher über vier Geländer, und wir erreichten den Uferpark.
Nach einer weiteren halben Stunde kam ich an einen Nebenarm. Es dämmerte. Leider versperrte eine Reihe hoher Bäume zwischen der Uferstraße und dem Jangtse die Sicht. Zu meiner Linken entdeckte ich erfreut eine Fähre nach Jiangxinzhou. Ich sprang an Bord und war nach zwei Minuten auf der Insel.
Von Jiangxinzhou hatte ich schon lange gehört. In den 1980er‑Jahren war es ein landesweit bekannter Musterbezirk moderner Landwirtschaft; Trauben, Wassermelonen und Erdbeeren von dort liebten die Nanjinger, und die Bauernhöfe der Insel waren ein beliebtes Wochenendziel.
In den 1990ern sprach man davon, es zu einem Vorzeigeprojekt urbaner Landwirtschaft zu machen. Eine Idee, die mir gefiel: Der Jangtse durchzieht Nanjing, Jiangxinzhou liegt zwischen beiden Ufern. Ein 15‑km²‑Agrarpark mitten in der Stadt könnte die Wärmeinsel abschwächen, den Bürgern ein großes Grün für Wochenenden geben und Nanjings Tourismus um eine besondere Note bereichern — Nanjing hätte nicht nur Kultur, sondern auch Anmut.
Um 2010 herum hörte ich eine neue Vision: Jiangxinzhou solle das „Manhattan Chinas“ werden, ein wohlhabendes Viertel auf dem Jangtse. Heute betrat ich endlich diese 15‑km²‑Oase im Unterlauf des Flusses, um zu sehen, was daraus geworden ist.
Als ich an der Anlegestelle Qigan von Bord ging, sah ich zuerst ein Geschäft für Trauerkleidung. Ich dachte: Die Reichen hier mögen wohl traditionelle Beisetzungen. Zwei Schritte weiter, noch so ein Laden. Konkurrenz belebt den Service, dachte ich — gut für die Insulaner.
Entlang der Min’an‑Straße wurden die Laternen schwächer; weiter vorn flackerten sie. „Sparsam und umweltbewusst“, redete ich mir ein. An der Feiyuan‑Straße gab es gar kein Licht mehr, und auch Reihenhäuser oder Villen sah ich nicht. Die Läden für Trauerkleidung gingen mir durch den Kopf, und ein Unbehagen stieg auf.
Da tauchten vor mir ein paar schwache Lichtpunkte auf — Irrlichter? Und sie kamen auf mich zu. Genau hingesehen: Glühwürmchen. Welch ein Glück! In einer Metropole wie Nanjing Glühwürmchen zu treffen, ist ein Wunder. Ermutigt ging ich weiter über die Min’an‑Straße zur Dammstraße und sah noch viele mehr. Offenbar ist die Umwelt auf Jiangxinzhou in Ordnung; zumindest ist die Pestizidbelastung nicht hoch — sonst gäbe es hier keine Glühwürmchen.
Zwischen der Dammstraße und dem Jangtse lag eine weitere Baumreihe, so dicht, dass man den Fluss keine fünf Meter weit sah. Ich trat den Rückweg an — zum Glück begleiteten mich die Glühwürmchen.
Die Fähre fuhr nicht mehr. Ich ging etwa vier Kilometer auf einer mit Metasequoien gesäumten Straße bis zur U‑Bahn‑Station Jiangxinzhou. Endlich, rund 500 Meter vor der Station, sah ich eine Wohnanlage. Ob hochklassig, kann ich nicht sagen; draußen, auf einer Brache, standen ein paar heimische Wagen. Etwa 200 Meter weiter kündete ein riesiges Plakat davon, die Insel zu einer „Himmelsstadt“ zu machen, die Technologie und Wohnqualität verbindet.
Ich betrat die U‑Bahn; es war schon halb zehn. Ich sprang in den Zug und fuhr zurück zum Olympischen Sportzentrum.
Lebt wohl, Glühwürmchen. Leb wohl, Jiangxinzhou.
Veröffentlicht am: 15. Sept. 2025 · Geändert am: 26. Okt. 2025